Lügen über meine Mutter von Daniela Dröscher
Hunsrück, 80-er Jahre. Kaum dass der Vater nach Hause kommt, fangen die Eltern an zu streiten. Es geht fast immer um das Gewicht der Mutter. Selten auch mal um das Geld, was ständig zu wenig ist. Der Vater hat große Pläne für sein Leben. Wenn diese nicht so umgesetzt werden können, wie er es sich wünscht, wirft er seiner Frau vor, sie wiege zu viel. Sie sei nicht hübsch genug, um an seiner Seite zu strahlen. Sie habe Schuld, dass Sponsoren für ein Projekt fernbleiben. Die beruflichen Chancen der Frau vereitelt der Vater, für seine hingegen erwartet er Applaus und bedingungslose Unterstützung. Das Familienkonstrukt ist fragil. Der ständige Kampf zwischen dem Ehepaar zieht irgendwann die restliche Familie mit hinein.
Daniela Dröscher lässt die in Ich-Form erzählte Familiengeschichte aus Sicht der Minderjährigen Ela erzählen. Das Mädchen versteht zunächst nicht, was der Vater über die Mutter sagt und beschreibt dann das schleichend aufkommende Gefühl der Scham. Die 80-er Jahre waren von Fitnesswellen und Hollywooddiäten geprägt. Bei den Reichen und Schönen wog niemand auch nur ein Gramm zuviel. In der Mitte des Jahrzehnts gewann dann ein rothaariger Deutscher ein Tennisturnier und die Sportler wandten sich dem Weißen Sport zu. Auch hier sahen natürlich schlanke Beine unterm Minirock ansehnlicher aus als Cellulite. Als Leser steht man dabei in der ersten Reihe und ist ein stiller Beobachter des ungleichen Paares. Bei ihm wird schnell deutlich, dass er sich durch Äußerlichkeiten ein besseres Leben erträumt. Der Mutter sind noch andere Dinge wichtig. Sie ist warmherzig, nimmt trotz der Belastungen sogar noch ein Pflegekind auf, hilfsbereit und immer da, wenn ihre Lieben etwas von ihr wollen. Mit ihrer Figur hadert sie, da sie es ja täglich vom eigenen Ehemann erzählt bekommt. Ihr Selbstbewusstsein schwindet. Man fragt sich, wieso sie es sich so lange gefallen lässt. Denn die übergewichtige Mutter zeigt auch Stärke. Sie regelt den Alltag der ganzen Familie und lässt es an nichts mangeln. Sie kümmert sich um drei Kinder, dem Erbe ihres Vaters und später um ihre demente Mutter. In den Augen des Vaters hat nur das Erbe einen Wert.
Der Text ist zwar ausführlich, ihr wisst jetzt aber trotzdem noch nicht alles über das Buch. Es ist so viel zwischen den Zeilen herauszulesen, dass ihr es euch nicht entgehen lassen solltet. Meiner Meinung nach ist es zurecht auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2022 gewesen. Droschers Erzählstil ist einnehmend, kurzweilig und stellt auch die Frage nach den gesellschaftlichen Ansprüchen der Zeit. Die 80-er Jahre scheinen noch nicht so lange vergangen zu sein. Ihre Auswirkungen sind aber vermutlich gerade in der Erziehung der damaligen Kinder noch heute spürbar. Das Buch zieht den Leser in einen Sog und bietet dabei so viel Trauriges, Unerhörtes und doch auch wieder Hoffnungsvolles.
Leseprobe

Daniela Dröscher, Jahrgang 1977, aufgewachsen in Rheinland-Pfalz, lebt in Berlin. Sie schreibt Prosa, Essays und Theatertexte. Studium der Germanistik, Philosophie und Anglistik in Trier und London, Promotion im Fach Medienwissenschaft an der Universität Potsdam sowie ein Diplom in »Szenischem Schreiben« an der Universität Graz. Ihr Romandebüt »Die Lichter des George Psalmanazar« erschien 2009 im Berlin Verlag, es folgten der Erzählband »Gloria« und der Roman »Pola« sowie das Memoir »Zeige deine Klasse. Die Geschichte meiner sozialen Herkunft« bei Hoffmann & Campe. Sie wurde u.a. mit dem Anna-Seghers-Preis, dem Arbeitsstipendium des Deutschen Literaturfonds sowie dem Robert-Gernhardt-Preis (2017) ausgezeichnet. Seit Herbst 2018 ist sie Ministerin im Ministerium für Mitgefühl. (Quelle: KiWi Verlag)
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- Herausgeber: Kiepenheuer&Witsch
- erschienen am 18. August 2022
- Gebundene Ausgabe: 448 Seiten
- ISBN-13: 978-3462001990
Das Rezensionsexemplar wurde mir vom KiWi Verlag zur Verfügung gestellt. Vielen Dank dafür. Meine Meinung hat es nicht beeinflusst.
Mir hat das Buch auch sehr gut gefallen und ich hätte mich sehr gefreut, wenn es den Buchpreis 2022 gewonnen hätte.
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Es ist ja auch schon eine Leistung, bis zur Endausscheidung zu kommen. Ich habe leider noch keine Zeit gefunden, die anderen Bücher der Shortlist zu lesen. Von daher kann ich nur sagen, dass es ein starkes Buch ist, aber ich weiß nicht, wie die anderen sind.
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