Kinder des Aufbruchs von Claire Winter
Berlin, 1967. Die Zwillingsschwestern Emma und Alice haben sich nach ihrer Flucht aus der sowjetisch besetzten Zone ein Leben in West-Berlin aufgebaut. Emma wird immer wieder als Dolmetscherin bei der Bundesregierung eingesetzt. Sie ist mit Julius verheiratet, mit dem sie Tochter Lisa hat. Trotz der Ehe führen beide ein unabhängiges Leben. Als überraschend herauskommt, dass Julius eine Tochter aus einer längst vergangenen Affäre hat, muss sie sich ihrer Gefühle stellen. Ihre Schwester Alice ist Journalistin und hat inzwischen Max geheiratet, der als Anwalt tätig ist. Ihre Kinderlosigkeit bedrückt sie. Als die junge Frau nach einem Job im Waisenhaus einen verängstigten Jungen in ihrem Wagen findet, beginnt sie, ihn regelmäßig zu besuchen. Es entsteht eine Bindung zu dem zwölfjährigen, der als schwererziehbar gilt. Als ein ehemaliger Freund aus DDR-Tagen Alice um Hilfe bittet, seiner Schwester zur Flucht zu verhelfen, lässt sie sich aufgrund ihres schlechten Gewissens überreden. Es beginnt eine gefährliche Zeit mitten zwischen Spionen der Stasi, die abtrünnigen DDR-Bürgern auf der Spur sind.
Claire Winter setzt mit diesem Roman die Geschichte um Emma und Alice aus Kinder ihrer Zeit fort. Zwischen den beiden Handlungen liegen sechs Jahre. Wer den vorherigen Roman kennt, weiß, wie sich die Schwestern wiedergefunden haben und welche dramatische Flucht sie hinter sich haben. Für Kinder des Aufbruchs ist dieses Wissen allerdings nicht notwendig. Es geht vielmehr um die damalige Situation in West-Berlin und wie sich die Spionage auf beiden Seiten der Mauer entwickelte. 1967 war ein turbulentes Jahr in der heutigen Hauptstadt. Beim Besuch des Schahs von Persiens kam der Student Benno Ohnesorg ums Leben. ein Jahr später wird das Attentat auf Rudi Dutschke verübt. Bei beiden Ereignissen lässt Winter ihre fiktiven Figuren in nächster Nähe dabei sein. Sie beschreibt das emsige Bemühen der Fluchthelfer, potentielle Gefangene der Stasi in letzter Minute in den Westen zu schleusen. Auch 33 Jahre nach dem Mauerfall wird so die Erinnerung an diesen Teil der deutschen Geschichte wach gehalten. Aber nicht nur die Ostdeutschen haben ihre Spione eingeschleust. Die Westmächte waren ebenfalls fleißig. Der Roman bekommt so eine Prise Spannung in den zeitgeschichtlichen Roman.
Claire Winter hat sich mit mir zum Interview verabredet. Was die Autorin über ihre Recherchen in der Berliner Unterwelt sagt und welches Genre sie für sich noch vorstellen kann, verrät sie im Podcast.
Die Figuren sind größtenteils fiktiv. Sie agieren jedoch vor realer Kulisse der Studentenbewegung und den dazugehörigen Protesten. Alice und Emma sind durch ihre getrennte Erziehung oftmals verschiedener Meinung über Politik. Während Emma im Westteil der Stadt mit ihrer Mutter lebte, wuchs Alice in einem Kinderheim der DDR auf. Ihr regelmäßiger Besucher war sowjetischer Offizier. Aber auch privat unterscheiden sich die Schwestern. Emma ist nach der Fehlgeburt immer noch deprimiert. Als Tante versucht die Journalistin, dieses Gefühl zu komprimieren. Luca ist Waise und als Leser ahnt man schon viel früher als Emma selbst, dass er das Ehepaar optimal ergänzen würde. Aber natürlich haben noch andere Institutionen ein Wort mitzureden. Zwischen Alice und Max verändert sich ebenfalls eine Menge. Der Anwalt scheint etwas zu verheimlichen und Alice gerät in Vorfälle, die sie ihm lieber nicht erzählen würde. Die Hinweise verleiten zum Spekulieren und erhöhen die Spannung. Über 560 Seiten sind der Handlungsstränge sorgsam komponiert, sodass auch dieses Buch viel zu schnell ausgelesen war.
Kinder des Aufbruchs lässt das Ende der 60-er Jahre wieder aufleben. Es geht um die innerdeutsche Teilung, den kalten Krieg mit seiner Agententätigkeit und um die Schicksale von Menschen. Emma und Alice zeigen gemeinsam mit ihren Partnern und Umfeld, wie die Gesellschaft funktionierte. Der Roman trägt dazu bei, der Historie nachzufühlen und sich außerdem in die Figuren einzufühlen. Es ist großes Kino und bekommt eine unbedingte Leseempfehlung.

Claire Winter studierte Literaturwissenschaften und arbeitete als Journalistin, bevor sie entschied, sich ganz dem Schreiben zu widmen. Sie liebt es, in fremde Welten einzutauchen, historische Fakten genau zu recherchieren, um sie mit ihren Geschichten zu verweben, und ihrer Fantasie dann freien Lauf zu lassen. Nach »Die Schwestern von Sherwood« folgten die SPIEGEL-Bestseller» Die verbotene Zeit« und »Die geliehene Schuld«. »Kinder ihrer Zeit« ist Claire Winters vierter Roman im Diana Verlag. Die Autorin lebt in Berlin. (Quelle: Randomhouse)
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- Gebundene Ausgabe: 560 Seiten
- Herausgeber: Diana Verlag
- ISBN-13 : 978-3-453-29266-6
- erschienen am 2. November 2022
Ein Gedanke zu “Berlins Unterwelt”