Mord als Nebensache

Totenland von Michael Jensen

Kriminalinspektor Jens Druwe aus Berlin ist nach seiner schweren Kriegsverletzung, bei der er seine Hand verlor, als Polizist im ländlichen Schleswig-Holstein eingesetzt. Am 12. April 1945 wird er zu einem Leichenfund gerufen. Ein Funktionär der NSDAP ist ermordet worden. Der Verdacht fällt auf einen entflohenen Häftling. Doch Druwe hat seine Zweifel. Irgendetwas passt nicht zusammen. Mit fragilen Begründungen verhindert er die vorschnelle Verurteilung und gewinnt Zeit, um die wahren Täter zu finden.

Der unter dem Pseudonym Michael Jensen schreibende Autor platziert seinen Kriminalroman in die turbulente Zeit zwischen dem 12. April und 5. Mai 1945. Der Zweite Weltkrieg ist fast vorbei und von allen Seiten rücken die feindlichen Linien näher. Über die Nachrichten werden immer noch Parolen für den Endsieg verbreitet, die das gemeine Volk nicht mehr glauben kann. Sie sehen, wie desaströs ihre Heimat aussieht. Der weit unter seinen Fähigkeiten eingesetzte Druwe ist Opfer des damaligen Wertgedankens. Zwar bekam er eine exzellente Ausbildung unter dem auch heute noch bekannten Kriminalchef Ernst Gennat in Berlin, muss aber wegen seiner Versehrtheit Herabsetzungen und Respektlosigkeit hinnehmen. Als niedriger Polizist hat er somit keinen Einfluss mehr auf die Ermittlungsarbeit. Druwe ist aber auch scharfsinnig und gibt so der Handlung unerwartete Wendungen. Den Spanungsaufbau hat Manuela vom Blog Lesenswertes aus dem Bücherhaus genauer unter die Lupe genommen.

Der Schlussakt in Flensburg

Die Historie wird nicht nur durch die Figuren fühlbar. Die norddeutsche Landschaft ist vom Krieg gezeichnet. Überall herrschte Mangel und die Äcker sind trostlos anzusehen. Oft wird vergessen, dass der Krieg zwar mit der Kapitulation Deutschlands am 8. Mai 1945 endet, aber die Nachfolgeregierung unter Großadmiral Dönitz noch bis zum 23. Mai in Flensburg fortgeführt wurde. In Flensburg kamen in diesem zwei Wochen 420 hochrangige Parteimitglieder zusammen, die sich nicht geschlagen geben wollten. Die Marineschule Mürwik wurde zur letzten deutschen Reichsregierung. Der Handlungsort ist für den fiktiven Fall sorgfältig gewählt. Die Stimmung schwingt während des Lesens ebenfalls mit. So verstörend das mit dem Militär ist, so empathisch fühlt man mit der Bevölkerung. Die wenigen Menschen, die in dieser Gegend wohnen, sind unterernährt, traumatisiert und wollen ihr Leben retten. Sobald sich die Männer in den Ledermänteln nähern, verstecken sie sich in den hintersten Winkeln mit der Hoffnung, nicht entdeckt zu werden. Es sind zum Teil Flüchtlinge aus den östlichen Kriegsgebieten, die bereits vor der Roten Armee davongelaufen sind. Die herrschende Brutalität wird dabei gar nicht so farbig ausgemalt. Vielmehr lassen die erschöpften Stimmen erahnen, welche Erlebnisse verarbeitet werden müssen. Über die 390 Seiten erscheint es wie ein Originalton aus einer zum Glück vergangenen Zeit.

Nicht nur die zivile Bevölkerung wird mit ihren Bedrängnissen dargestellt, sondern auch diejenigen, die durch willkürliche Handlungen psychisches und physisches Leid verbreitet haben. Selbst wenige Tage vor Stunde Null hielten sie an ihren Befehlen fest. Den gesunden Menschenverstand haben zwölf Jahre Diktatur schrumpfen lassen. Man liest von Befehlsgewalten, die sich unberechtigt bereichern und darüber entscheiden, ob jemand unbehelligt bleibt, oder deportiert wird. Diese Macht lässt abstumpfen und Grenzen übertreten. Auch hier musste der Autor nichts explizit aussprechen, um ein Kopfkino in Gang zu setzen. Der Grat zwischen aufgestauter Wut und natürlich empfundener Ethik ist sowohl bei den Tätern als auch bei den Opfern schmal. Von daher ist die Klärung des Mordfalls nicht einfach und lässt jeden zum Verdächtigen werden.

Der historische Kriminalfall bekommt eine unbedingte Leseempfehlung. Die Fiktion passt sich glaubhaft in die Historie zum Fall des Deutschen Reichs ein. Der Mord bildet den Rahmen für einen umfangreichen Einblick in die menschliche Psyche.

Leseprobe

Der zweite Fall für Jens Druwe Totenwelt erscheint am 15. Juni 2020. Er schließt chronologisch an Totenland an.


Michael Jensen wurde 1966 im Norden Schleswig-Holsteins geboren. Er lebt mit seiner Familie in Hamburg und Flensburg. Im Hauptberuf ist er als Arzt und Therapeut tätig. Seine beruflichen Erfahrungen hat er in zwei Sachbüchern zusammengetragen. Dabei interessieren ihn besonders die seelischen Spätfolgen des Zweiten Weltkriegs, vor allem bei den Nachkommen von Opfern und Tätern. »Totenland« ist sein erster Kriminalroman. Für sein literarisches Schreiben hat er ein Pseudonym gewählt. (Quelle: Aufbau Verlag)


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  • Taschenbuch: 400 Seiten
  • Verlag: Aufbau Taschenbuch
  • erschienen am 12. Juli 2019
  • ISBN-13: 978-3746634609

Das Rezensionsexemplar wurde mir vom Aufbau Verlag zur Verfügung gestellt. Vielen Dank dafür. Meine Meinung hat es nicht beeinflusst.

8 Gedanken zu “Mord als Nebensache

  1. Rainer Wagner schreibt:

    Als gebürtiger Flensburger und pensionierter Marineoffizier hat mich dieses Buch gefesselt. Es ist spannend geschrieben und fügt sich in die historische Umwelt überzeugend ein. Ich sah die Orte und Straßen plastisch vor mir. Ein absolutes Highlight für jeden Flensburger aber auch nicht ortskundigen. Ich freue mich auf die Fortsetzung.

    Gefällt 1 Person

    • frauGoetheliest schreibt:

      Der Krimi ist durch seine bildhafte Sprache auch für Ortsunkundige gut lesbar. Ich habe heute schonmal den Prolog des zweiten Teils gelesen und bin wenigstens gedanklich schon wieder in Flensburg.

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